Philharmonischer Chor Kiel e.V.

Kieler Nachrichten, 03.01.2024

Beethovens dramatischer Aufschrei

Neunte Symphonie im Neujahrskonzert der Philharmoniker unter Daniel Carlberg

VON CHRISTIAN STREHK

KIEL. Große Werke der Musikgeschichte reagieren sensibel auf die Zeitläufte. Den Kieler Philharmo­nikern, ihrem Dirigenten Daniel Carlberg, den Sängerinnen und Sängern, aber auch den knapp 1400 Lauschenden steckt offenbar das alles andere als humanes Jahr 2023 in den Knochen. Dadurch musiziert und hört man die globale Brüderlichkeitsbotschaft von Beethovens „Neunter“ in der Philharmonie in der Wunderino Arena anders.

Kiels Stellvertretender Generalmusikdirektor lässt aus dem Nebel des Beginns am Neujahrs­abend 2024 prägnant Motive herausragen. In beinahe panischem Schrecken à la Gustav Mahler türmt sich daraus im ersten Satz ein dramatisches Szenario auf, scharfkantig pointiert, bedrohlich.

Sehr überzeugend ist klanglich die historische richtige Orchester­aufstellung mit dem links konzentrierten Violindiskant und Bässen sowie den rechts transparent antwortenden Mittelstimmen. Der atemlose zweite Satz hat mit knatternden Paukenakzenten etwas von einem Gegenangriff gegen das böse Chaos der Welt. Und das ebenfalls rasch aufgefasste und darin Beethovens unruhigem inneren Ohr folgende Adagio wirkt wie eine bedrängte Bitte.

Man muss also auch hier auf das Erhabene und gemütlich Vorromantische weitgehend verzichten. Stattdessen dekliniert das Finale mit tatsächlich „sprechend“ gestalteten Rezitativen und Zitaten den ganzen K(r)rampf des menschlichen Univer­sums noch einmal rückblickend durch.

Dann erhebt Samuel Chan seinen balsamisch strömenden Solo-Bariton und fordert andere, „angenehmere“ und „freudenvollere“ Töne. Die kann er mit Beethovens Vertonung von Schillers „Ode an die Freude“ haben.

Carlberg lässt aber auch im Jubilieren nichts Gediegenes gelten, sondern treibt das Kollektiv mit unablässig druckvoll treibenden Tempi in eine heftig aufstrahlende Euphorie. Die isländische Sopranistin Bryndis Guðjónsdóttir überstrahlt das bewunderungswürdig weißglühend. Titia Jibladze passt sich mit beweglichem Mezzo ein und der Tenor Bernhard Berchtold siegt im hastigen Getümmel gekonnt über Beethovens vokale Zumutungen.

Die von Gerald Krammer einstudierten Stimmen­kollektive Opernchor und Philharmonischer Chor Kiel skandieren immer wieder plastisch, lassen sich mitreißen, überstehen dabei die unerhörten Höhenflüge mit gelegentlich greller, aber immer packender „Götterfunken“-Energie. Dieser Aufschrei, endlich die Welt zu bessern, erreicht und begeistert die Zuhörerschaft.